Sunday 19 January 2014

ROCK-ARCHÄOLOGIE: Multimedia in Liverpool in den 60ern

Liverpool Underground

Pop-Poetry, Rock und Performance-Art in den 60er Jahren

Ein Gastbeitrag von Benjamin Tyrs


„Liverpool ist momentan das Bewusstseinszentrum des menschlichen Universums“, erklärte Allen Ginsberg 1965 bei einem Besuch der dortigen Avantgardeszene. Durch den Beatles-Hype in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gerückt, erschien Liverpool in den frühen sechziger Jahren künstlerisch als Stadt der ungegrenzten Möglichkeiten. In vielen Clubs der Stadt wurde nach den wilden Rhythmen einer neuen Musik getanzt, die aus Amerika kam und Rock ’n’ Roll genannt wurde. In Liverpool entstand daraus der Merseybeat, in dem die Beatles ihre Wurzeln hatten. Ginsberg traf dort auf eine lose Gruppe von Poeten –  Adrian Henri, Roger McGough und Brian Patten –  die mit neuartigen Lyrikhappenings Furore machten und eine erfrischende Alternative zu den starren und traditionellen Formen der Dichtung darstellten. Sie trugen in Pubs ihre Gedichte vor, die mit Versatzstücken aus Alltagssprache, Slang, Collagetechniken der Avantgarde sowie Elementen der Trivialkultur ein neues Publukum ansprachen.

Die Verse der amerikanischen Beat-Poeten hatten das Feld bereitet. Angeregt durch die Jazz-and-Poetry Veranstaltungen von San Francisco, wurden  in der Liverpooler Streate’s Coffee Bar ähnliche Abende organisiert. Auf der Suche nach Eigenständigkeit wurden die Ideen der Beats weiterentwickelt. Lyriklesungen avancierten nun zu multimedialen Spektakeln, bei denen Dichtung, visuelle Kunst und Rock ’n’ Roll zu einem umfassenden Kunsterlebnis  verbunden wurden.  Zu den Sounds von Popgruppen wie den Roadrunners oder den Clayton Squares wurde nun eine etwas andere  Poesie gelesen, während abstrakte Gemälde und  riesige Poster den Veranstaltungsraum schmückten.
Diese  Events, eine Liverpooler Spielart des Happening, zogen ihre Inspiration aus Erfahrungen der Alltagswelt. Die Idee zur Veranstaltung  “Death of a Bird in the City“ war Henri auf dem Weg zum Manchester College of Art gekommen, als ihm eine Möwe gegen die Windschutzscheibe flog.

„Die Kellerbar hatte einen schwarzen Boden und abgedämpftes Licht. Eine Bühne gab es nicht, aber in der Mitte einen freien Platz, um den das Publikum saß. Alles war ungeprobt und nicht professionell, aber die Stimmung war großartig, und die Zuschauer klatschten an den richtigen Stellen, während die Bar weiter Bier ausschenkte und Chips verkaufte“, erinnerte sich Carol Rudd, die bei der Performance den Vogel mimte. Die Attraktivität der Liverpool Poets bestand darin, eine literarische Lesung zu einer Show auszubauen. „Unsere Performance war theatralischer, weil wir die Vorträge strukturierten und sie mit Klang- und Soundeffekten anreicherten und außerdem Musik einsetzten,“ betonte Patten. Dadurch wurden die Lesungen für ein neues Publikum interessant, das normalerweise nicht zu einer Literaturveranstaltung gegangen wäre.

Stilistisch war alles erlaubt, sofern es beim Publikum Reaktionen auslöste. Die Figur des maskierten Poeten, eine Batman ähnliche Gestalt, sorgte für Heiterkeit. Batman mischte sich unters Publikum, um es im Wettreimen zu besiegen. „Take me back to Gotham City - Batman / Take me where the girls are pretty – Batman,” skandierte Adrian Henry. “All those damsels in distress / Half-undressed or even less / The BatPill makes ‘em all say Yes – Batman.” .
Im Zuge des Beatlesboom, der Liverpool ab 1963 über Nacht zum Nabel der internationalen Pop-Szene gemacht hatte, durchforsteten die Medien nun die Hinterzimmer der Liverpooler Pubs  auf der Suche nach möglichen Superstars. Dabei stießen sie auf Henri, Patten und McGough, die gerade dabei waren, ihr multimediales Konzept der Poetry-Performances in das Format einer Rockband zu überführen.


Adrian Henri (ganz links) und seine Band 'The Liverpool Scene'

Adrian Henri wählte  einen radikalen Ansatz. Seine Formation The Liverpool Scene mischte die neuen Underground-Sounds, Jazz, Blues und experimentelle Klangerkundungen mit einem extremen Vortragsstil, der von extrovertiertem Wortgebrüll bis zu geflüsterten Beschwörungsformeln reichte. Durch den  Brückenschlag  zwischen Experiment und Verständlichkeit wurden die Auftritte zu Popkonzerten der neuen Art und die Dichter wie Popstars behandelt: „Unsere Gedichte wurden von den Jugendlichen nicht als ’Poetry’ mit einem großen P angesehen. Für sie war es moderne Unterhaltung, ein Bestandteil der Popbewegung.“
 

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