Monday 23 September 2013

Lesung mit Fotos, Filmen & Musik: KLANG DER REVOLTE


Christoph Wagner: KLANG DER REVOLTE 'live'

Am Mittwoch, 9. Oktober 2013 (20 Uhr)gibts meinen Vortrag "Der Klang der Revolte - wie die Rockmusik in die südwestdeutsche Provinz kam' mit raren Bilder und Live-Musik von Fifty-Fifty (Minimal Loop Jazz mit Manfred Kniel, dr & Ekkehard Rössle, sax) in Tübingen im Club Voltaire in der Haaggasse. Veranstalter ist der Club Voltaire und das Sudhaus.

Weitere Infos: http://www.sudhaus-tuebingen.de/aktuell/13535.php

                                                                              Edgar Broughton Band, 1970

Am Donnerstag, 10. Oktober 2013 bin ich dann solo mit einer Lesung (plus Fotos, Filmen und rare Musikaufnahmen) in der Manufaktur in Schorndorf - einem für die südwestdeutsche Subkultur wichtigen Ort. Der Vortrag wird auf die frühe Geschichte des Clubs Manufaktur bzw. des Jugendzentrums Hammerschlag in Schorndorf besonders eingehen. Schorndorf war in den frühen siebziger Jahren die Rockhauptstadt in Südwestdeutschland, wo Bands wie Black Sabbath, The Nice, Taste und Jeff Beck sich die Türklinke in die Hand gaben.

Weitere Infos: http://www.club-manufaktur.de/programm/vorschau.html

Sunday 22 September 2013

Blues der Donaumetropole: SCHRAMMELMUSIK


Sigmaringen, Alter Schlachthof

Donnerstag, 17. Oktober 2013 /   20 Uhr

Rares konzertantes Schrammelkonzert mit den

Neue Wiener Concert Schrammeln


 Was der Tango für Buenos Aires und der Samba für Rio de Janeiro, ist die Schrammelmusik für Wien: die Volksmusik, die der Donaumetropole ihren eigenen Klang gibt.
 
Der Stil war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden, als das Ensemble der Brüder Hanns und Josef Schrammel in der aufkommenden Donaumetropole eine neue urbane Volkmusik erfand, die traditionelle und konzertante Elemente miteinander verband und wie eine volksmusikalische Form von Kammermusik klang, die sich bald in den Weinlokalen der Wiener Vorstädte großer Beliebtheit erfreute.
                                                                          Schrammelquartett, Postkarte, ca. 1900
Die Neuen Wiener Concert Schrammeln widmen sich seit Jahren  diesem Stil und gelten als die vitalste der neuen Schrammelensembles. Bei diesem raren Konzert – mitveranstaltet und mitgeschnitten vom Südwestrundfunk -  wird höchste Musikalität geboten, keine verwässerte Schunkelmusik für Heurigentouristen. Die Gruppe tritt in der klassischen Schrammelbesetzung mit zwei Geigen, Knopfakkordeon und Kontragitarre auf. Ihr neustes Programm widmet sich Kompositionen aus den ehemaligen Kronländern der Donaumonarchie wie Ungarn, Böhmen und Mähren, Bosnien, Galizien und der Bukowina.

Saturday 21 September 2013

Das Comeback der UKULELE


Sehnsuchtsinstrument
 
Einst verspottet, erlebt die Ukulele aktuell eine Renaissance in Rock und Pop
 

 cw. Früher wurde sie belächelt. Nur Spaßmacher und Varieté-Unterhalter spielten Ukulele - die nervige und etwas vorlaute, kleine Schwester der Gitarre. Niemand nahm sie ernst. Doch seit das Zupfinstrument in der Popmusik immer mehr an Boden gewinnt, hat sich sein Ruf verbessert. Ob Noah And The Whale, The Magnetic Fields, Jack Johnson oder die Fleet Foxes - mehr und mehr Popkünstler schätzen die  Unbekümmertheit  seines Schrammelklangs. Unlängst trat Eddie Vedder von der Rockband Pearl Jam mit einem Soloalbum an die Öffentlichkeit, das für einen weiteren Popularitätsschub sorgte. Auf “Ukulele Songs” finden sich mehr als ein Dutzend Lieder, auf denen sich der Pearl Jam-Sänger auf der Ukulele begleitet und beweist, dass sie auch zu ernsthaftem künstlerischen Ausdruck geeignet ist.
 
“Weniger Saiten, mehr Melodie”, so bringt Vedder die Vorteile der Ukulele auf den Punkt. Verliebt hat er sich in die viersaitige Minigitarre vor mehr als zehn Jahren bei einem Urlaub auf Hawaii, wo er sich von den Strapazen einer Pearl Jam-Tour erholte. In einem Laden stach ihm das Instrument ins Auge, das so billig war, dass er es sofort kaufte. Vor dem Geschäft probierte er darauf herum, bis eine Melodie ertönte. “Ein paar Touristen blieben stehen und warfen mir Geld in die Instrumentenschachtel,” erzählt Vedder. “Ich dachte: Sapperlot, das Ding hat etwas!”
 
Sein radialdemokratischer Charme ist das größte Plus des Instruments -  fast für jeden Geldbeutel erschwinglich. Dazu leicht zu erlernen: “In fünf Minuten Ukulele spielen!” garantiert ein Unterrichtswerk. Die geringe Größe macht sie außerdem für kleine Hände spielbar und zum idealen Schulmusikinstrument. “Mein Daddy zeigte mir ein paar Akkorde auf der Ukulele, bis meine Hände groß genug waren, um Gitarre zu spielen,” erinnert sich Bluesgitarrenlegende Johnny Winter. Diese plebejischen Tugenden machen die Ukulele heute zu einer Art Anti-These zum immer aufgeblaseneren und hochpolierteren Musikbusiness.
 
Die Vorteile scheinen sich langsam herumzusprechen, denn die Verkaufszahlen klettern nach oben. In Großbritannien, dem führenden Land der neusten Ukulele-Welle, ist das Instrument ein Verkaufsschlager. Allein im letzten Jahr wurde im Vereinigten Königreich mehr Ukulele verkauft als E-Gitarren. Mit mehr als 40 % verzeichnete das Instrument den größten Umsatzzuwachs von allen Musikinstrumenten.
 
Und sie werden auch gespielt, am liebsten im Verein. Auf der Insel schießen Spielvereinigungen wie Pilze aus dem Boden und das nicht nur in größeren Städten. Selbst auf dem Land grassiert der Ukulele-Virus, wie in Hebden Bridge (Nordengland), wo sich ein halbes Dutzend Hobbymusiker zum gemeinschaftlichen Musizieren einmal im Monat im “Cross Inn Pub” treffen, oder im benachbarten Halifax, wo eine “Ukulele Gang” regelmäßig zusammenkommt. In Deutschland haben sich ebenfalls bereits erste Vereine gebildet.
 
“Jung und alt kommen zum Übungsabend - von Teenagern bis zu Rentnern. Menschen aus den unterschiedlichster Berufen  - das ganze Spektrum!” erzählt Rob Collins, der vor ein paar Jahren im Hebden Bridge den Spielkreis ins Leben rief. Collins hatte sich in das Instrument vernarrt, als er vor zehn Jahren auf die Idee kam, Ukuleles aus blechernen Keksdosen zu bauen, die unerwarteten Anklang fanden. Als er dann letztes Jahr arbeitslos wurde, machte er aus seinem Hobby einen Vollzeitberuf und liefert nun hochwertige Instrumente aus makellos gedrechselten Rosenholz oder Eichenholz in die ganze Welt. Von Japan bis in die USA treffen Bestellungen ein. Die Auftragsbücher sind bis zum Jahresende voll.
 
Ursprünglich war die Ukulele in Hawaii aus einem Zusammenprall zweier Kulturen entstanden. 1879 hatten portugiesische Auswanderer traditionelle Zupfinstrumente wie die Braguinha und das Cavaquinho von der Insel Madeira in die Südsee gebracht. Auf Hawaii wurden die Instrumente den lokalen Bedürfnissen angepasst, in der Form vereinfacht, in der Stimmung simplifiziert und in “Hüpfender Floh” umbenannt: Ukulele!
 
Nach der Annexion durch die USA, avancierte Hawaii 1898 zum beliebten Ferienziel amerikanischer Urlauber. Bei den Touristen erfreuten sich die traditionellen Hula-Tänze und hawaiianische Folksongs besonderer Wertschätzung, die oft von einer Ukulele und einer Slide-Gitarre begleitet wurden. Die Gitarre wurde mit einem Metallstück gespielt, das man über die Saiten gleiten ließ, um heulend-wimmernde Töne zu erzeugen.
 
Der exotische Sound von Ukulele und “Steel-Gitarre” (auch “Slide-Gitarre” oder “Hawaii-Gitarre” genannt) avancierten zur Projektionsfläche eskapistischer Sehnsüchte. In den Südsee-Fantasien vollführten braune Schönheiten am Strand im Mondschein unter Palmen exotische Tänze zu den sanft-wiegenden Melodien der Saiteninstrumente. Dieses Motiv wurde von Songs wie “Ukulele Sweetheart” oder “My Honolulu Ukulele Baby” um die Welt getragen. In einem Song lautete der Refrain: “The Ukulele melody is nice, the music seems to come from paradise.”
 
Nach der Jahrhundertwende tourten erste Musikgruppen aus Hawaii mit solchen “Hapa-baole”-Songs durch die USA: “halbweiße” Lieder aus Südsee-Melodien und englischem Text. Meistens bestanden die Ensembles aus vier Musikern, die ausnahmslos Zupfinstrumente spielten: Ukulele, Gitarre, Steel-Gitarre, Mandoline oder Kontrabaß. Manchmal kam noch eine Hula-Tänzerin dazu.
 
Zwei Ereignisse brachten den Durchbruch. 1912 lief die erst Hawaii-Show namens “Bird of Paradise” im Daly’s Theater am Broadway in New York. Zu den Südsee-Szenen und bunten Kostümen kamen diverse Lieder zur Aufführung, begleitet von einer Musikcombo in typischer hawaiianischer Besetzung. Die Kritik schwärmte von der “unheimlich sinnlichen Musik der Inselbewohner”. Nach dem Broadway-Erfolg tourte die Show ausgiebig durch die gesamten Vereinigten Staaten und Kanada. Der Triumphzug war ausschlaggebend dafür, dass Musiker aus den Sparten Blues und Hillbilly die “Hawaii-Gitarre” aufgriffen und die heulenden Töne ihren Musik einverleibten. Ausverkaufte Häuser sorgten dafür, das “Bird of Paradise” 1919 nach Europa kam, wo die Show volle acht Jahre lang unterwegs war.
 
1915 sorgte die “Panama-Pacific International Exhibition” von San Francisco für einen weiteren Popularitätsschub. Viele der 17 Millionen Besucher hörten dort zum ersten Mal hawaiianische Musik mit Ukulele, vorgestellt vom “Royal Hawaiian Quartet”. Die Begeisterung schlug hoch. 1926 war der Höhepunkt erreicht, als die amerikanische Gitarrenfirma Martin - ein Gitarrenhersteller unter vielen - allein 14000 Ukulele verkaufte.
 
Ähnlich dem Tango, der ein paar Jahre zuvor weltweit für Furore gesorgt hatte, avancierte nun Hawaii-Musik zum “dernier cri”. Schallplattenlabels veröffentlichten Schellacks mit Südsee-Klängen. In Hotels, Casinos und Varieté-Theaters unterhielten Hawaii-Combos die Besucher. Amerikanische, englische, deutsche und tschechische Musiker sprangen auf den Zug auf und versuchten sich ebenfalls im Südsee-Stil. Felix Mendelssohn & His Hawaiian Serenaders brachte es dabei in Großbritannien zu beträchtlicher Beliebtheit.
 
Hawaii-Musik feierte weltweite Triumphe. Die Südsee-Musik bahnte den Weg für andere exotische Stile, die - befeuert durch die neuen Medien Schellackplatte und Rundfunk - in westlichen Nachtclubs für Aufregung sorgten. Rumba kam in den 1930er Jahren auf, kubanische und “latin” Musik in den 40ern, sowie Mambo in den 50er Jahren.
 
Die Tau Moe Family Band kann als Pionierensemble für den weltumspanenden Erfolg der Hawaii-Musik gelten. Die Gruppe, die auch unter dem Namen “The Aloha Four” firmierte, war von Ende der 1920er Jahre permanent auf Gastspielreise: von Asien nach Indien in die Türkei, von Rumänien über Griechenland in den Libanon und nach Ägpyten. Während der 1930er Jahre hatten sie eine Wohnung in Berlin und lebten längere Zeit in Paris und Brüssel
 
Als 1933 die Ukulele in einem Film mit Laurel & Hardy auftauchte, sowie ein paar Jahre später in “Waikiki Wedding” mit Bing Crosby, war die Mode wieder im Abklingen begriffen. Erst in den 50er Jahren bescherte  Marilyn Monroe in “Some like it hot” dem Instrument ein Comeback, zu dem auch Elvis mit dem Film “Blue Hawaii” beitrug, für den er auf dem Plakat mit Ukulele posierte. Ende der 60er Jahre wirbelte der schrille Entertainer Tiny Tim noch einmal Staub auf, dessen Markenzeichen die  Ukulele war. Dann wurde es stiller um das Instrument aus der Südsee.
 
Heute ist das Ukulele-Fieber wieder erwacht. Nicht ganz unschuldig ist daran das Ukulele Orchestra of Great Britain, das seit 1985 unermüdlich als Missionsorganisation für das Instrument fungiert und mittlerweile selbst in Japan große Säle füllt. Das professionelle Ensemble aus acht Ukulele-Spielern, zumeist ehemaligen Gitarristen, bietet ein buntgewürztes Programm aus klassischen Vaudeville-Nummern, alten Schlagern und Rock-Bearbeitungen von Klassikern wie “Born to Be Wild”, “Sex and Drugs and Rock ‘n’ Roll” oder “Anarchy in the UK”. Selbst Hawkwinds “Silvermachine” wird die Ukulele-Behandlung zuteil, wobei die Diskrepanz zwischen Pling-Plong-Tönen und dem Heavy-Rock der Originale die komische Wirkung nicht verfehlt.

 
Im deutschsprachigen Raum sind Coconami die Speerspitzen des Trends. Das japanische Musikerehepaar aus München hat dem Rock ‘n’ Roll ade gesagt, ihre E-Gitarren bei ebay verkauft, um jetzt eine unbeschwerte und charmante Musik zu machen, zu der die Ukulele bestens passt. Nami singt wie ein Vogel beim Sonnenaufgang, nur lieblicher, während Miyaji auf den Saiten zirpt. Ob bayrisches Landler-Lied, japanische Folkmelodie oder ein Punk-Song der Ramones - Coconami macht die Ukulele zum kulturübergreifenden Weltenversöhner. “Jeder sollte eigentlich eine Ukulele besitzen,” meint Eddie Vedder. “Die Leute müssen sich ausdrücken können, das braucht es einfach!”
 
Auswahldiskographie:
Eddie Vedder: Ukulele Songs (Monkeywrench/Universal-Island)
Ukulele Orchestra of Great Britain: Still live (UOGB)
Coconami: Ensoku (Trikont)

Sunday 15 September 2013

Anti-Folksänger JEFFREY LEWIS - ein Portrait


Witz und Weisheit

Der New Yorker Anti-Folksänger Jeffrey Lewis führt ein Doppelleben als Comic-Autor


                                                                                                     Fotos: Manuel Wagner, New York 2012

cw. Jarvis Cocker, Bandleader von Pulp, hält ihn für “den besten Liedtexter im heutigen Amerika”, und Will Oldham, alias Bonnie ‘Prince’ Billy, geizt ebenfalls nicht mit Lob: “Es gibt nicht viele, die mit Musik eine Geschichte so erzählen und so mit Sprache umgehen können wie Jeffrey Lewis. Er ist einfach toll, eindrucksvoll, inspirierend und aufregend.” Vor fünfzehn Jahren begann der heute 37jährige New Yorker neben Adam Green und Kimya Dawson unter dem Banner des “Anti-Folk” im Sidewalk Cafe in Downtown Manhattan mit eigenen Songs aufzutreten. Inzwischen gilt Jeffrey Lewis als einer der originellsten Liedermacher der alternativen Rockszene.

Seit er 2001 beim legendären Independent-Label Rough Trade unterkam, zeigt die Erfolgskurve nach oben. Bei der Londoner Firma hat er inzwischen sechs Alben veröffentlicht, darunter eine Platte, die ausschließlich Lieder der anarchistischen englischen Punkband Crass enthält. Lewis hat die “12 Crass Songs” zu akustischen Folkballaden mit farbigen Arrangements umgeschneidert, ohne ihnen ihren inhaltlichen Biß zu nehmen – im Gegenteil: “Crass spielten die Songs so schnell und laut, dass die Texte untergingen. Ich singe die Lieder dagegen langsam, damit sie jeder versteht.”
Im Unterschied zu den Crass-Songs kommen Jeffrey Lewis’ eigene Lieder nicht so aggressiv-politisch daher, wenn man von seinem Solidaritätslied “What would Pussy Riot do?” einmal absieht. Mit seinen Versen beschreibt Lewis eher Erlebnisse aus seiner unmittelbaren Umgebung, die als symptomatisch für die gesellschaftlichen Verwerfungen gelten können, denen man fast täglich begegnet. Lewis gelingen dabei poetische Zeilen, die eine genaue Beschreibung der Gegenwart liefern und dennoch voller Witz und Weisheit sind.


Lewis ist mit Punk und Indie-Rock groß geworden. Als wichtigen Einfluß nennt er Sonic Youth. Seine Bewunderung reicht so weit, dass er unter dem Namen “Sonnet Youth” begonnen hat, das komplette Songbook der New Yorker Indie-Band in Sonettform umzudichten, die er in kleinen fotokopierten Heftchen vertreibt.

Folk ist eine andere Inspirationsquelle, wobei seine Helden Woody Guthrie, Bob Dylan und The Holy Modal Rounders heißen. Zwischen Punk und Folk ist dann auch Jeffrey Lewis’ Musik angesiedelt, in der sowohl die Nachdenklichkeit und Harmonieseligkeit des Folk als auch der Furor von Punk und Grunge rumort. Seine Akustikgitarre versinnbildlicht diese Karambolage gegensätzlicher Stile. Auf Knopfdruck verwandelt sich die verschrammte buntbemalte Klampfe mittels Wah-Wah-Pedal und Verzerrer in ein kreischendes Monster. 
Lewis ist auf der Lower East Side in Downtown Manhattan aufgewachsen und fühlt sich der langen Tradition alternativer Klänge dieses Stadtteils verbunden. Im Titel “A Complete History of Punk on the Lower East Side from 1950 - 1975“ kommt diese Affinität zum Ausdruck. Da tauchen sie alle auf: Harry Smith, Herausgeber der bahnbrechenden LP-Serie “Anthology of American Folk Music”, Velvet Underground und die Fugs. Dazu: Patti Smith, die New York Dolls sowie die Ramones. Lewis feiert diese Künstler als visionäre Pioniere der amerikanischen Subkultur, die Musikern wie ihm den Weg bereiteten.

Mit Tuli Kupferberg (1923 - 2010) von der dadaistischen Politband The Fugs verband Lewis eine enge Freundschaft. Der junge Singer-Songwriter besuchte den anarchistischen Beatlyriker noch im hohen Alter regelmäßig. “Tuli wohnte gleich um die Ecke,”  erzählt er. “Wir haben geredet, Meinungen ausgetauscht, und manchmal habe ich ihm einen neuen Song vorgesungen.”

Peter Stampfel ist ein anderer Bruder im Geiste. Mit dem Veteran, der 1964 mit den Holy Modal Rounders den psychedelische Folk erfand, hat Lewis vor ein paar Jahren eine gemeinsame Band gegründet. “Wenn möglich treffen wir uns sonntags zum Liederschreiben in Stampfels Loft in SoHo,” berichtet Lewis. Zwei Alben sind aus der Kooperation bereits hervorgegangen.

Ein Faible für Comics verbindet die beiden. Einmal in der Woche geht es zum Kiosk, um einen Stapel Neuerscheinungen zu erwerben. Doch ist Jeffrey Lewis nicht nur ein fanatischer Leser, er entwirft auch eigene Bildergeschichten. In seiner “Fuff”-Serie sind bisher sieben Hefte erschienen, die er bei Konzertauftritten und auf Comic-Messen verkauft.

Die Comics tauchen in überdimensionalem Format bei seinen Live-Auftritten wieder auf. Seite um Seite blättert Lewis dann die “Lo-Fi Videos” durch, um anstatt der Sprechblasen witzige Verse zu rezitieren. Dabei schreckt er nicht vor großen Themen zurück. Mit ein paar pfiffigen Reimen und prägnanten Strichzeichnungen wird etwa “The Fall of the Soviet Union” in drei Minuten dargestellt. Unterhaltsamer kann Geschichtsunterricht nicht sein!

Der Artikel erschien zuerst in Die Wochenzeitung (WoZ), Zürich


Sunday 8 September 2013

BROOKLYN - das neue Kreativzentrum des New Yorker Jazz


Kreatives Kraftzentrum

In Brooklyn pulsiert die New Yorker Jazzszene jenseits des Mainstreams


cw. Bis in die 80er Jahre waren die Lower East Side und das East Village von Manhattan das Zentrum des kreativen Jazz in New York. Stadtsanierung, Gentrifizierung und die Erfolge der “Zero Tolerance on Crime”-Politik haben den ehemaligen Slum in Downtown Manhattan in eine komfortable Wohngegend verwandelt, was die Mietpreise explodieren ließ und viele Musiker und Künstler aus dem Viertel vertrieb. Brooklyn, gleich gegenüber auf der anderen Seite des East Rivers gelegen, wurde zum neuen Brennpunkt der Jazzaktivitäten jenseits des Mainstreams. Fünf MusikerInnen der neuen Brooklyn-Szene stellen sich vor: wie sie leben, wie sie ihren Alltag organisieren und welche Musik sie machen. Vom Anfänger zum Routinier, vom Bandleader zum Sideman – das ganze Spektrum.



Harris Eisenstadt (Schlagzeuger und Komponist)

“Ich bin 1975 in Toronto geboren und lebe seit einigen Jahren mit meiner Frau und unserem Sohn in Brooklyn.  Mein Vater war ein Amateurdrummer, der ein Schlagzeug im Keller hatte, auf dem ich spielen konnte. Ich trommelte im Schulorchester, spielte in Rockbands. Irgendwann verlor ich das Interesse am Schlagzeug, trieb mehr Sport. Mit ungefähr 19 Jahren fand ich zu den Drums zurück und habe mich seither intensiv damit beschäftigt. Ich hatte ein Jahr Unterricht bei Barry Altschul und studierte danach Musik bei Leo Smith am CalArts-College in Los Angeles. Nach dem Studium arbeitete ich als professioneller Musiker in Los Angeles und gab Unterricht.

2006 zog ich nach New York, wo ich zuvor schon ein Jahr gelebt hatte. Ich arbeitete damals für das Label Knitting Factory Records. Deshalb kannte ich schon ein paar Musiker hier, dennoch war es ein frischer Anfang, als ich zurückkehrte. Das Tolle an New York ist, dass es so viele fantastische Spieler gibt. Ich nahm zu Beginn an vielen informellen Sessions teil, um neue Instrumentalisten kennenzulernen. Die Leute sind sehr offen hier und bereit, mit anderen zu musizieren. Mit der Zeit haben sich daraus feste Bandprojekte ergeben. Man trifft Musiker durch Musiker. Man spielt zusammen und es klickt. Mit manchen  hat man sofort einen direkten Draht und zieht sie dann für Projekte heran. Der persönliche Faktor ist wichtig. Man muss sich gut verstehen, sonst funktioniert es nicht, weil man ja auf Tourneen längere Zeit eng zusammen ist.

Viele Musiker, mit denen ich regelmäßig arbeite, leben ebenfalls in Brookyln – mein innerer Kreis. Das macht es leicht, zu proben und sich zu treffen. Mein Quintett bildet das Kernstück meiner Aktivitäten. Es ist eine konventionelle Besetzung, mit der ich versuche, unkonventionelle Musik zu machen. Es ist mir wichtig, mit dem Publikum zu kommunizieren. Es gibt Musiker, denen das Publikum egal ist, die nur für sich selber spielen. Das ist das Gegenteil meine Haltung.

Normalerweise entsteht ein Stück aus ein paar Akkorden am Klavier. Oder eine Melodie oder ein Rhythmus fliegen mir zu. Ich arbeite diese Fragmente aus, strukturiere und orchestriere sie am Computer, mache mir Gedanken über die Improvisationen und versuche das Stück als Ganzes zu skizzieren. Erst danach spielen wir es in der Gruppe, basteln weiter intensiv daran - oft ein Jahr oder länger. In diesem Prozeß kann es wiederum die Form verändern. Wir müssen jedes Stück in- und auswendig kennen, um in den Improvisationen die Essenz der jeweilige Komposition herauszuarbeiten.”

Harris Eisenstadt Quintet: Canada Day 3 (Songlines)
Harris Eisenstadt: Canada Day Octet (482 Music)



Jesse Stacken (Pianist und Komponist)

“Ich lebe seit 2002 in New York City und wohne seit längerem in Brooklyn. Ich studierte an der Manhattan School of Music. Nach dem Studium begann ich in verschiedenen Gruppen zu spielen und meine eigene Musik zu komponieren. Im Zentrum meiner Aktivitäten steht mein Trio mit dem Bassisten Eivind Opsvik und Jeff Davis am Schlagzeug. Wir haben bereits drei Alben veröffentlicht. Ich leite daneben noch ein Ensemble mit dem Kornettisten Kirk Knuffke. Mit dieser Gruppe spielen wir keine eigenen Kompositionen, sondern ein breites Spektrum an Stücken, die von Duke Ellington, Charles Mingus, Carla Bley, Steve Lacy, Ornette Coleman und Misha Mengelberg stammen.

Darüber hinaus bin ich noch als Sideman in mehreren Gruppen aktiv. Außerdem unterrichte ich Piano an einer Musikschule in Manhattan und gebe Privatstunden zu Hause. Man muss sehr aktiv sein, um über die Runden zu kommen. In Brooklyn sind die Mieten noch erträglich, in Manhattan sind sie unbezahlbar - deshalb hat sich die Szene hierher verlagert.

Im Moment ist es hier fantastisch. Es gibt so viele Musiker in der unmittelbaren Nachbarschaft und so viel tolle Musik – ein wirklich dichtes Netz. Man unterstützt sich gegenseitig und stellt sich einander vor. Man kann sich problemlos zu Sessions verabreden und lernt jedesmal neue Musiker kennen.

Wenn ich Zeit habe, rufe ich meine Kollegen einfach an: “Hey, wollt ihr morgen Vormittag proben?” Dann treffen wir uns im Keller meines Wohnblocks, wo ich ein Klavier stehen habe. Der Raum ist so abgeschottet, dass wir niemanden auf die Nerven gehen. Das kann ein Problem sein, wenn man in seiner Wohnung Musik macht und die Nachbarn sich beschweren. Musiker teilen sich deshalb Proberäume, die sie zusammen mieten. Auftrittsorte wie das Musikstudio iBeam in Brooklyn finanzieren sich ebenfalls durch Mitgliedschaften. Man zahlt einen monatlichen Beitrag und kann dann den Raum so und so oft für Konzerte oder Proben nutzen.

Als ich mein Trio 2005 gründete, gab es diese Flut von Jazzpianotrios noch nicht. Unsere Musik kreist um Melodien. Ich muss also aus der Begleitfunktion etwa eines Saxofonisten heraustreten und die melodische Führungsrolle übernehmen. Darüber hinaus haben wir uns von dem konventionellen Mainstream-Muster verabschiedet, wie man es an der Hochschule lernt. Wir versuchen etwas anderes, eine Musik, die eher mit Kontrapunkt arbeitet und mit komplexeren Akkorden. Moderne klassische Musik hat mich dazu angeregt. Der Komponist Morton Feldman war eine wichtige Inspiration. Er nutzt das Klavier in seiner vollen Klanglichkeit mit all den Obertönen, was auch meine Intention ist. Weil es das Trio schon lange gibt, sind wir zu einer echten Einheit zusammengewachsen.”

Jesse Stacken: Bagatelles for Trio (FreshSoundRecords)



Kris Davis (Pianistin und Komponistin)

“Ich zog von Toronto (Kanada) 2001 nach New York, zwei Wochen vor den Terroranschlägen. Ich hatte Verwandte hier, auch kannte ich ein paar Musiker von früheren Aufenthalten in der Stadt. Die meisten, die ich traf, waren schon länger hier und deshalb ziemlich beschäftigt. Das machte es anfangs recht schwierig, doch ich knüpfte Kontakte.

Da ich Kanadierin bin, konnte ich zu Beginn nicht arbeiten, musste mir zuerst eine Aufenthalts- und eine Arbeitsgenehmigung beschaffen, was eine wirklich komplizierte Sache war. Ich hatte etwas Geld gespart, das mir über die Durststrecke hinweghalf.

Dann gab ich Klavierunterricht. Ohne diesen Broterwerb hätte ich meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Ich brauchte ungefähr ein Jahr, um mich als Musikerin einigermaßen zu etablieren. Aber bis heute gebe ich Klavierunterricht, von Auftritten allein könnte ich nicht leben. Dieser Brotberuf gibt mir Sicherheit und auch die Freiheit, Projekte durchzuführen, die ich sonst nicht realisieren könnte. Kein Geld zu haben, kann eine künstlerische Falle sein.

Zu Beginn lebte ich bei einer Freundin meiner Tante in New Jersey, dann die ersten 6 Jahre in Uptown Manhattan in vier verschiedenen Wohnungen. Danach zog ich nach Brooklyn, weil viele meiner Musikerfreunde dort hinzogen. Die Szene schien sich hierher zu verlagern. In Brooklyn zu wohnen, machte das Musikmachen einfacher. Früher mussten meine Bandkollegen zu mir nach Uptown Manhattan eineinhalb Stunden mit der Subway fahren und eineinhalb Stunden zurück! Das ist eine große Zeitinvestition und den Kollegen nicht ohne weiteres zuzumuten.

Auch an Gigs ist hier leichter zu kommen. Es gibt in der Nachbarschaft in Brooklyn / Park Slope viele Cafés, Bars und Restaurants, wo regelmäßig Konzerte stattfinden, meistens in Hinterzimmern oder Nebenräumen. Im “Korzo” organisert der Pianist James Carney eine Konzertreihe, wo jeden Dienstag zwei Gruppen spielen. Auch im “Barbes” und im “Shapeshifter Lab” gibt es Jazz. In anderen Lokalen finden Jamsessions statt – es ist wirklich viel los! All diese Auftrittsorte befinden sich in einem Umkreis von zehn Blocks entlang der 5th Avenue in Brooklyn / Park Slope.

Meistens spielt man für das Eintrittsgeld. Es gibt also viele Orte, wo man spielen kann, nur viel Geld kann man da nicht verdienen. Aber man trifft jede Menge Musiker. Diese Auftrittsorte fungieren als soziale Treffpunkte, wo man reden und sich austauschen kann. Jeder hängt dort gerne rum. Man trifft Leute, die man schon länger nicht gesehen hat, und die Hälfte sind Musiker.

Es gibt sogar ein paar ordentliche Pianos an diesen Plätzen, was toll ist, weil ich beschlossen habe, dass ich keine Keyboards mehr schleppen will. Ich konzentriere mich im Moment auf Solopianokonzerte, spiele mit meinem Jazzpianotrio und habe mit Mat Manieri (Viola), Ingrid Laubrock (Saxofon), Trevor Dunn (Bass) und Tom Rainey (Schlagzeug) ein Quintett ins Leben gerufen, das Anfang nächsten Jahres sein Debutalbum veröffentlichen wird.”

Kris Davis: Aeriol Piano (Clean Feed)
Kris Davis Trio: Good Citizen (FreshSoundRecords)


Kate Pittman (Schlagzeugerin und Komponistin)



“Ich fing mit zwölf Schlagzeug zu spielen an, als ich im Fernsehen ein Musikvideo mit einem richtigen cooler Drummer sah. Es sah so aus, als ob nichts auf der Welt mehr Spaß machen würde, als trommeln. Da dachte ich: “Das mache ich auch!” Dass ich als Mädchen Schlagzeug spielte, war nie ein Hindernis: Es wurde akzeptiert! In der Oberstufe drängte man mich in die Schuljazzband. Zuerst wollte ich nicht, weil Jazz als ziemlich uncool galt. Als irgnoranter Teenager hatte ich keine Ahnung, was Jazz überhaupt war. Da aber mein Schlagzeuglehrer, der nur drei Jahre älter war und den ich bewunderte, auf Jazz stand, ließ ich mich breitschlagen und fing Feuer.

Ich zog vor eineinhalb Jahren nach Brooklyn, weil viele der Musiker, die ich bewundere, hier leben. Ich wollte mit gleichgesinnten und fähigen Musikern zusammen sein und an diesem wunderbaren Wahnsinn teilhaben. Ich bin 26 Jahre alt und dachte, dass alles viel schwieriger sein würde. Aber auf einmal spiele ich Gigs mit Leuten, die ich als Vorbilder betrachte, wie etwa den Bassisten Michael Formanek. So gesehen war es einfacher, Fuß zu fassen, obwohl ich noch lange nicht “etabliert” bin.

Die Atmosphäre in Brooklyn ist im Moment wirklich inspirierend: überall gibt es tolle Musik! Man unterstützt sich gegenseitig und hilft einander. Es herrscht ein Geist gegenseitigen Respekts und der Solidarität. Es gibt hier viele junge Musiker, von denen man  noch hören wird. Und die älteren Musiker spielen mit uns jungen. Barrieren gibt es kaum.

Mein Band heißt “Denial and Error”, mit der wir meine Kompositionen spielen. Sie besteht aus dem Trompeter Josh Reed, Adam Hopkins am Bass und Landon Knoblock am Piano, der auch Fender Rhodes spielt und für die Electronics sorgt. Wir machen eine Musik, die aus genau notierten Teilen und völlig frei improvisierten Passagen besteht. Ich habe zudem ein Duo mit dem Gitarristen Dustin Carlson, wo ich auch Vibrafon spiele. Daneben bin ich Mitglied im Trio Flip City des Saxofonisten David Aaron und in der Gruppe Towering Poppies, die von der Saxofonistin Jasmine Lovell-Smith geleitet wird. Ich bin noch in anderen Bands aktiv, die aber oft nur ein paar Gigs spielen.

Nur von der Musik zu leben, das reicht nicht. Ich hoffe, dass es in ein paar Jahren möglich sein wird. So lange arbeite ich in FortyWeight Café in Brooklyn / South Slope, was mir Spaß macht, weil ich eine Leidenschaft für Kaffee habe. Ich arbeite drei Tage die Woche, das bringt genug ein.

Es gibt mehr und mehr Frauen, die in meinem Umfeld Jazz spielen. Ich habe mich wegen meines Geschlechts noch nie benachteiligt gefühlt. Ob Mann oder Frau – das spielt letztendlich keine Rolle. Das einzige was zählt, ist die Musik.”

Jasmine Lovell-Smith's Towering Poppies (feat. Kate Pittman): Fortune Songs (Paintbox Records)




Jacob Garchik (Posaunist, Komponist, Arrangeur)

“Ich bin in San Francisco aufgewachsen. Mit zehn habe ich mit dem Posaunenspielen begonnen. Nach dem Schulabschluß mit siebzehn ging ich nach New York, um an der Manhattan School of Music Jazzposaune zu studieren. Ich wohne also seit achtzehn Jahren hier, vierzehn davon in Brooklyn. Ich zog nach Brooklyn, weil man sich dort noch die Mieten leisten konnte und bereits einige Musiker hier lebten. Seither habe ich in drei verschiedenen Neighbourhoods gewohnt und alle haben sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Aus heruntergekommen und gefährlichen Stadttteilen wurden  angenehme und sichere Wohngegenden, was allerdings die Mietpreise nach oben trieb. Manche Viertel in Brooklyn gehören inzwischen zu den teuersten im Land. Neue Geschäfte machten auf. Manchmal gehe ich Wochen lang nicht nach Manhattan, weil es alles in Brooklyn gibt: Shopping, Kultur, Konzerte, Theater, Kino, Restaurants.

Als ich 1994 nach New York kam, lebten noch viele Musiker in Manhattan. Auf der Lower East Side, im East Village und an der Upper West Side waren die Wohnungen,noch bezahlbar. Durch die explodierenden Mietpreise wurden die Musiker mehr und mehr hinaus an die Peripherie gedrängt: nach Upper Manhattan um Washington Heights, nach New Jersey, nach Queens und Brooklyn. Das hat die Szene zersplittert. Wenn man in Brooklyn wohnt, ist es schwierig mit Musikern aus Upper Manhattan oder New Jersey zusammenzuarbeiten, weil der Aufwand einfach zu groß ist. Darum gibt es kaum Verbindungen. Natürlich macht man Ausnahmen. Wenn es ein guter Gig ist, unternimmt man schon mal die Anstrengung einer langen Anfahrt.

Weil normale Auftritte kaum Geld einbringen, machen sie nur Sinn, wenn sie in der direkten Nachbarschaft stattfinden. Man spielt auch einmal für nur zwanzig Dollar, wenn man zum Gig zu Fuß gehen kann.

Die Musikerdichte in Brooklyn ist enorm. Ich kann kaum aus dem Haus gehen ohne einen Kollegen zu treffen. Mehr und mehr Cafés und Bars richten Konzertreihen ein. Dort kann man regelmäßig, vielleicht einmal im Monat auftreten, was hilft, die Musik und den Gruppenklang zu entwickeln.

Trotzdem sollte man Manhattan nicht abschreiben. Es erfüllt immer noch eine wichtige Funktion, vor allem als zentraler Auftrittsort, wo sich die Clubs mit Reputation befinden. Im Gegensatz zu den kleinen Musikcafés in Brooklyn, haben die Clubs in Manhattan Gewicht, weil sie seit Jahren Jazz präsentieren und einen superben Ruf besitzen. Deshalb muss man als Jazzmusiker weiter in Manhattan auftreten, will man ein größeres Publikum erreichen. Jazzfans kommen aus Queens, von Long Island, von Staten Island und aus New Jersey zu Konzerten nach Manhattan. Die würden nicht nach Brooklyn kommen. Auch die Presse bespricht ein Konzert eher in einem etablierten Club. Deswegen sollten sich Musiker nicht auf Brooklyn beschränken. Will man mehr erreichen, kommt man an Manhattan nicht vorbei.

Wie alle professionellen Musiker betreibe ich mehrere Bandprojekte. 40Twenty ist ein Quartett, das die Qualitäten des Jazz der 50er Jahren zu neuem Leben erweckt, ohne nostalgisch oder rückwärtsgewandt zu sein. Wir spielen unsere eigenen Kompositionen. In den 50er Jahren spielten Jazzbands in einem Club manchmal Wochen, ja Monate, jeden Abend, wodurch eine ganz andere Intensität der Interaktion entstand. Das wollten  rekreieren.  Wir mieteten einen Auftrittsort in Brooklyn für mehrere Wochen und spielten dort jeden Abend zwei Sets, um dieses blinde Verständnis innerhalb der Gruppe zu erlangen. 40Twenty versucht das Paradox: mit einer anderen Art von Mainstream-Jazz aus dem Mainstream-Format auszubrechen.

Daneben habe ich die neunköpfige Gruppe The Heavens gegründet, die sich mit sieben Posaunisten an den Trombone-Shout-Bands der schwarzen Kirche orientiert. Außerdem spiele ich in einer Blaskapelle, die auf mexikanische Banda-Musik spezialisiert ist, zu der die Leute tanzen.

Ich kann meinen Lebensunterhalt mit Musik verdienen, vor allem deshalb, weil ich noch als Arrangeur für das Kronos Quartet arbeite. Ich habe Dutzende Arrangements für Kronos geschrieben. Im Moment arbeite ich an einem Projekt mit Kronos und Laurie Anderson. Anderson komponiert die Musik, ich arrangiere sie.”

Jacob Garchik / Jacob Sachs / David Ambrosio / Vinnie Sperrazza: 40Twenty (Yeah Yeah Records)
 Jacob Garchik & The Heavens: The Atheist Gospel Trombone Album (Yestereve Records)

Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift JAZZTHETIK (www.jazzthetik.de)