Saturday 25 August 2012

LOL COXHILL (1932-2012) - Nachruf

Der englische Sopransaxofonist Lol Coxhill verstarb am 10. Juli 2012. Ich habe ihn ein paar Mal getroffen für Interviews (eines über Alexis Korner), auch für das Schweizer Radio DRS2 eine Sendung über ihn gemacht. Lol war immer höflich und zuvorkommend. Als ich ihn 2004 bat, einen kurzen Beitrag für mein Buch "Auge & Ohr / Ear & Eye - Begegnungen mit Weltmusik / Encounters with World Music" (Edition Neue Zeitschrift für Musik) beizusteuern, willigt er bereitwillig ein, und lieferte dann ein handgeschriebenes Stück ab über ein altes Foto von vier Straßenmusikern - denn damit hatte er Erfahrung! Auf der Trikont-CD "Creative Outlaws - UK Underground 1965-71" ist er ebenfalls mit einem Track vertreten, dem Beatles-Cover "I am the Walrus", in dem seine ganze verschrobene Exzentrik wunderbar zur Geltung kam. Lol war ein sanfter Zeitgenosse, der mit Soul seine Karriere begonnen hatte, später dann zum Rockjazz überlief, um schließlich in der freien Improvisation seine Bestimmung zu finden. Jahrzehnte lang gehörte er zur Grundausstattung der Londoner Impro-Szene. Schwer vorstellbar, dass wir auf seine verschlungenen Saxofonlinien, überlicherweise in einem heruntergekommene Pub-Hinterzimmer präsentiert, von nun an verzichten müssen. Christoph Wagner



2004 erschien dieser Artikel in der Süddeutschen Zeitung:

Chamäleon mit Saxofon
Lol Coxhill zwischen allen Stilen 

von Christoph Wagner

Sein Saxofon hat er vor 47 Jahren für 8 Pfund auf  dem Flohmarkt erworben. Er reparierte es und spielt das Instrument bis heute. Beständigkeit prägt auch sonst Lol
Coxhills Karriere, die sich inzwischen über mehr als ein halbes Jahrhundert spannt. Mit 68 Jahren zählt der Saxofonist heute zu den Altmeistern der englischen Musikszene, ein freundlicher Exzentriker, der bei Auftritten am liebsten bunte Hawaiihemden trägt und dessen Kreativität vor keiner Stilrichtung halt macht. Ob Rhythm & Blues oder New Orleans Jazz , ob Rock,  Punk oder Freejazz - überall ist Coxhill zuhause. Selbst in der Londoner Techno-Szene taucht er gelegentlich auf. Solche stilistische Freizügigkeit kann er sich leisten, gilt er doch allgemein als einer der besten Sopransaxofonisten der Insel.

Doch Können und künstlerische Anerkennung zahlen sich selten aus. Der Ruhm hat Coxhill kein opulentes Leben geschert, nicht einmal eine gesicherte Existenz. Wenn er abends im Hinterzimmer irgendeines Pubs in London seine wunderbar vertrakten Saxofonlinien in die Luft malt, sieht er sich oft nur einer kleinen Schar von Zuhörern gegenüber, und manchmal reicht die Gage kaum aus, um mit dem Taxi nach Hause zu fahren. 

Das war nicht immer so. In den siebziger Jahren befand sich Coxhill auf Erfolgkurs. Damals tummelte er sich in der sogenannten “Canterbury Scene” und war Mitglied in Kevin Ayers’ Gruppe The Whole World. Bei Auftritten stand er  neben einem siebzehnjährigen Milchgesicht auf  der Bühne, das Bass spielte und bald  zum Schallplattenmillionär werden sollte: Mike Oldfield. “Manchmal war es das helle Chaos, dann gab es wieder Moment von absoluter Brillanz,” erinnert sich Coxhill. “Man wusste nie, was passieren würde.”

Wenn man Coxhill heute in seiner Wohnung in einem Arbeiterwohnblock im Londoner Stadtteil Clerkenwell besucht, kommt man auf dem Gang an einer unscheinbaren Tür vorbei. “Dahinter befindet sich mein Leben”, sagt der Hausherr und öffnet die Abstellkammer, die vollgestopft ist mit Tonbändern, Cassetten und Filmrollen. Es ist die Arbeit eines  Musikerlebens: Schallplattensessions, Konzertmitschnitte, Fernsehauftritte - alles bunt durcheinander gewürfelt. Coxhill stöbert ein bisschen im Chaos und fördert eine Videocassette zu Tage, die mit “Rufus Thomas” beschriftet ist. Es ist sein Auftritt mit dem amerikanischen Soulsänger von 1965 in der Fernseh-Show “Ready, Steady, Go!”,  der  zur entscheidenen Weichenstellung seines Karriere wurde. Danach hängte er seinen Brotberuf als Buchbinder an den Nagel,  um von nun an allein vom Musikmachen zu leben.

“Swingin’ London” bot damals ausreichend Beschäftigung, um einigermassen über die Runden zu kommen. Regelmässig begleitete Coxhill nun amerikanische Rhythm & Blues- und Soulstars auf ihren Tourneen durchs englische Hinterland, spielte dabei neben Rufus Thomas  mit Martha & The Vandellas, Screamin’ Jay Hawkins, Otis Spann und Champion Jack Dupree, um an den freien Abenden in irgendeinem verrauchten Londoner Club mit Alexis Korner, Jack Bruce oder Ginger Baker zu jammen. “Eines abends kam ein Typ mit einer Gitarre daher, und fragte, ob er einsteigen könnte”, erzählt Coxhill. “Wir hatten nichts dagegen und spielten eine Weile bekannte Bluesnummern zusammen. Erst später, als ich ihn im Fernsehen sah, ging mir ein Licht auf: Es war Jimi Hendrix.”  Auch Charlie Watts, Drummer der Rolling Stones, kommt aus diesem Milieu. Ihn kennt Coxhill noch aus der Urzeit der Skiffle-Mode.  Als Watts vor Jahren, in Erinnerung an die alten Zeiten, ein Jazzalbum aufnahm,  wollte er Coxhill unbedingt dabei haben.

Begegnungen dieser Art bilden die Glanzlichter einer Karriere, die auch etliche Durststrecken zu verzeichnen hatte. Immer wieder trocknete die Arbeit aus und dann musste Coxhill sich als Strassenmusikant über Wasser halten. Dabei spielte er Tag für Tag - ob Baker Street oder Waterloo Bridge - für ein paar Pence für die Passanten. Bald gehörte der “Glatzkopf mit dem Saxofon” zum Strassenbild bestimmter Stadtteile in London. Wenn Mitmusiker ihn zu einem Auftritt abholen wollten, waren sie gut beraten, zuerst den Saxofonklängen in den Gängen der U-Bahn-Station King’s Cross nachzugehen. Coxhill leistete sich sogar einmal den Scherz, als “Busker” für eine Schlange von Leuten zu spielen, die für Karten eines Jazzkonzerts anstanden, um wenig später beim regulären Auftritt auf der Saalbühne abermals zu erscheinen. 

Das “Busking” empfand Coxhill nicht als Zeitvergeudung, sondern verordnete sich ein strenges Übungsprogramm. Er vervollkommnete seine Improvisationskunst, die er mehr und mehr zu einem abendfüllenden Solo-Programm ausbaute. Beim Musizieren auf der Strasse traf er eines Tages den Schlagzeuger John Stevens, der ihn zu den Sessions im (heute legendären) Little Theatre Club einlud, der Geburtstätte des englischen Freejazz. “Wir mussten die Musik regelrecht aus der Luft ziehen,” beschreibt Coxhill den kreativen Prozess. “Die Zuhörer, oft nur einen Handvoll Leute, wollten etwas Neues hören und wir spielten einfach drauflos, Improvisationen, die quer zum konventionellen Jazz standen.” In dieser Szene bewegt sich Coxhill noch heute. Er ist  in zahllosen ad-hoc-Gruppen aktiv,  musiziert aber auch regelmässig mit beständigeren Formationen wie dem Freejazz-Blues-Trio The Recedents oder der Improvisations-Schlager-Combo The Melody Four, die für ihre Klamauk- und Schabernack-Einlagen bekannt ist , wobei das Publikum nie weiss, was zu erwarten ist.

Coxhill schätzt solche unkalkulierbaren Situationen. Er ist überzeugt, dass Risiken und Herausforderungen, Routinen und Kischees verhindern. Als er Ende der siebziger Jahre eines Tages zufällig an einer Tankstelle von Mitgliedern der Punkband The Damned erkannt wurde, die ihn aufforderten, beim abendlichen Konzert einzusteigen, zögerte er nicht lange, obwohl er nicht einmal sein Saxofon dabei hatte. In der Garderobe fand Coxhill eine alte Wohnzimmerlampe und einen abgewetzten Sessel, die er auf der Bühne zu einem kleinen Theater-Set  arrangierte. Während des Auftritts nahm er darin Platz, um, während auf der anderen Bühnenhälfte der Punk-Tumult tobte, seelenruhig in einem Buch zu lesen. Die Pogo-Helden im Publikum fühlten sich von soviel Ignoranz derartig provoziert, dass sie ihn beschimpften und bespukten. Als die ersten Pappbecher flogen und Krawall im Anflug schien, bat ihn das Management, doch bitte die Bühne zu verlassen.

Veröffentlichtungen:

Lol Coxhill - Spectral Soprano. Emanem 4204. (www.emanemdisc.com)
Doppel-CD mit 29 verschiedene Aufnahmen von 1954 bis 1999:

Creative Outlaws - UK Underground 1965 - 1971 u.a. mit Lol Coxhill, Eric Burdon & The Animals, The Nice, The White Noise, Liverpool Scene, Bonzo Dog Band, Julie Driscoll, John's Children, The Yardbirds, The Deviants, Comus, Aynsley Dunbar, Arthur Brown, Fairport Convention, Edgar Broughton Band, Small Faces (Trikont, 2009).

No comments:

Post a Comment